Musst du

so laut atmen?

Eine Arbeitskollegin, die herzhaft in einen Apfel beisst. Ein älterer Herr im Bus, der laut und rasselnd atmet. Personen, die beim Mittagessen in der Kantine vernehmlich schmatzen. Solche Geräusche nehmen viele von uns als störend wahr. Aber manche Personen bringen sie richtig auf die Palme – mit gefährlichen Folgen.

«Misophonie» nennt man das Phänomen, bei dem sich Personen extrem an den Körpergeräuschen ihrer Mitmenschen stören. Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff «Hass auf Geräusche». Die Betroffenen ärgern sich über die anderen, ekeln sich vor ihnen oder können ihnen gegenüber sogar aggressiv auftreten, wenn sie sich durch ihre Körpergeräusche gestört fühlen. Sie leiden oftmals sehr unter der Misophonie, weil sie unter Umständen öffentliche Räume und soziale Begegnungen zunehmend meiden. Doch die Symptome der Misophonie können mit den anerkannten psychiatrischen Diagnosesystemen nicht klassifiziert werden, denn sie passen zu keiner bekannten psychiatrischen Erkrankung. Deshalb hat sich eine Forschergruppe aus Amsterdam zusammengesetzt und Diagnosekriterien erarbeitet. Denn nur so kann Misophonie als Erkrankung diagnostiziert und behandelt werden.

Die Geschichte der Studie begann 2009. Drei Patient:innen wurden mit Zwangsstörungen in das Psychiatrie-Zentrum in Amsterdam eingewiesen. Sie gaben an, dass sie aufgrund typischer Körpergeräusche wie Schmatzen oder Atmen aggressiv werden und den Impuls verspürten, die Person, die die Geräusche verursacht, anzuschreien oder anzugreifen, damit der Lärm aufhört. Aber ihre Symptome passten zu keiner bekannten Zwangs- oder Impulskontrollstörung.

Die Forschenden beschlossen, die Misophonie genauer zu untersuchen und stellten schnell fest, dass Misophonie häufiger ist, als man denkt. Sie riefen Betroffene über ihre Webseite und über eine Nachrichtengruppe auf, sich für eine Studie zu melden. Innerhalb von zweieinhalb Jahren meldeten sich fast 50 Betroffene mit Misophonie.

In der Studie wurden schliesslich 42 Misophonie-Betroffene subjektiv von fünf Psychiater:innen und objektiv anhand standardisierter Fragebögen evaluiert. Ausserdem entwickelte das Forschungsteam auf der Grundlage einer Skala für Zwangsstörungen einen angepassten Fragebogen für Misophonie, mit denen sie den Schweregrad der Symptome einstufen konnten.

Die Symptome waren bei allen Patient:innen sehr ähnlich: Die Misophonie wird durch Körpergeräusche anderer Menschen ausgelöst, nicht aber durch die Betroffenen selbst oder durch Tiere. Bei den meisten untersuchten Personen sind die Auslöser Essgeräusche, bei drei von fünf Betroffenen sind es auch Atemgeräusche oder das Tippen auf der Tastatur. Bei manchen Betroffenen reichte es bereits, Personen zu sehen, die zum Beispiel mit offenem Mund assen; sie mussten die Geräusche also gar nicht hören, um sich zu ärgern. Diese Auslöser rufen in Menschen mit Misophonie Gereiztheit, Ärger und Ekel hervor. Jede:r vierte Betroffene reagiert verbal aggressiv, jede:r Sechste physisch aggressiv gegen Objekte, und jede:r Neunte hat wegen störender Geräusche bereits seine:n (Ex-)Partner:in geschlagen.

Während dieser Wutausbrüche hatten die Betroffenen das Gefühl, die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Sie verstanden sich in diesem Moment selbst nicht mehr und fanden diesen Kontrollverlust moralisch verwerflich. Deshalb versuchten sie, die Auslöser mit Kopfhörern oder einem Vermeiden von sozialen Kontakten zu umgehen, was mit grossem Stress im Alltag einherging und einen grossen Leidensdruck verursachte.

Dennoch lassen sich die Symptome nicht mit den gängigen Systemen für die Diagnose psychischer Erkrankungen einordnen. Zu den Phobien passt die Misophonie nicht, weil die Betroffenen keine Angst haben, sondern eher ärgerlich und aggressiv reagieren. Auch für Patient:innen mit Zwangsstörungen stehen eher Ängste im Vordergrund und Aggressionen kommen nur selten vor. Für die posttraumatische Belastungsstörung fehlt das lebensbedrohliche Trauma, das die Betroffenen erlebt haben müssen. Bei Störungen der Impulskontrolle sind die Betroffenen häufiger ausfällig und aggressiv gegenüber Objekten oder Personen, was bei Personen mit Misophonie selten passiert und was sie eigentlich zu vermeiden versuchen.

Somit passen die Betroffenen in keine der bisherigen Krankheitsschemata und die Autor:innen der Studie setzen sich dafür ein, dass «Misophonie» als eigenständige psychische Erkrankung anerkannt wird. Deshalb legen sie in ihrer Studie Diagnosekriterien für Misophonie fest und stellen einen Fragebogen zur Diagnose zur Verfügung. Sie hoffen, dass die Misophonie durch ihre Forschungsarbeit in Psychiatrien stärker anerkannt und genauer wissenschaftlich untersucht wird.

Die Studie wurde vom Komitee des Ig-Nobelpreises 2020 mit dem Medizinpreis ausgezeichnet. Die Forschenden diagnostizierten laut Komitee «in ihrer Studie eine lange unerkannte medizinische Erkrankung, nämlich den Ärger, wenn man andere Menschen kauen hört». Der satirische Preis für wissenschaftliche Leistungen, die «Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen», ist also hochverdient.

Quelle:

Schröder A, Vulink N, Denys D. Misophonia: diagnostic criteria for a new psychiatric disorder. PLoS One. 2013;8(1):e54706. doi: 10.1371/journal.pone.0054706. Epub 2013 Jan 23. PMID: 23372758; PMCID: PMC3553052.