Rätselhafte Männer

und bedrohte Menschheit

Frauen haben zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Das haben wir alle in der Schule gelernt. Aufgrund seines komplizierten Aufbaus konnte das Y-Chromosom aber erst vor kurzem entschlüsselt werden. Doch nun können Forschende grosse Fragen mit Auswirkungen auf die ganze Menschheit beantworten.

Wohl genauso, wie Frauen schwer zu verstehen sind für Männer, werfen Männer so einige Fragezeichen bei Frauen auf. Aber zumindest in einer Hinsicht ist das Rätsel «Mann» gelöst: Endlich konnte auch das Y-Chromosom, das männliche Geschlechtschromosom, vollständig sequenziert werden. Männer sind also seit September 2023 offiziell etwas weniger rätselhaft als zuvor.

Wenn man sich unsere Erbinformation als Bibliothek vorstellt, wurde damit eines der kürzesten und doch kompliziertesten Bücher vollständig gelesen. Das Y-Chromosom ist zwar kleiner als die restlichen 45 Chromosomen der menschlichen DNA, aber es ist besonders komplex. Denn es ist ziemlich unstrukturiert und manche Buchkapitel werden vielfach wiederholt, manchmal sogar in umgedrehter Reihenfolge.

Es ist also nicht überraschend, dass das Lesen eines solchen Buches schwerfällt; zumal die Forschenden mit den bisherigen Sequenziermethoden die DNA in kurze Stücke schneiden mussten, um sie abschnittweise ablesen zu können. Danach mussten die Stücke dann wieder zusammengesetzt werden – eine Herausforderung, wenn einzelne DNA-Stücke sich mehrmals wiederholen. Wie bei einem Puzzle, bei dem alle Teile gleich aussehen und in fast beliebiger Reihenfolge zusammenpassen. Dank neuerer Methoden können nun auch längere DNA-Stücke abgelesen werden, was das mühevolle Zusammensetzen enorm vereinfacht. Dies ermöglichte es nun endlich, das Y-Chromosom komplett abzulesen und das Rätsel «Mann» zu knacken.

Doch das Y-Chromosom bleibt mysteriös. Forschende hatten es bereits vermutet: Es enthält nur sehr wenige Gene, also DNA-Abschnitte, die tatsächlich in Proteine übersetzt werden und eine Funktion in der Zelle entfalten. Und doch macht das Y-Chromosom aus einem Embryo mit ursprünglich weiblichen Anlagen einen Menschen mit männlichen Geschlechtsmerkmalen. Wie macht es das, wo es doch fast keine Gene enthält?

Es gibt zwei Bereiche auf dem Y-Chromosom, die männliche Hormone einschalten und so die Bildung von Hoden und Spermien anstossen. Die männlichen Hormone wirken auch auf Gene, die auf anderen Chromosomen liegen. Ohne das Y-Chromosom, also bei weiblichen Embryonen, bleiben diese dann einfach ausgeschaltet. So kann das kleine Y-Chromosom trotz der vermeintlich wenigen Informationen, die es enthält, doch eine grosse Wirkung in der Entwicklung des Embryos entfalten – zumindest, wenn es funktional ist und die Hormone wirken, wie sie sollen. Denn es gibt auch Menschen, die zwar ein Y-Chromosom haben, aber dennoch weiblich sind. Das passiert zum Beispiel, wenn das Y-Chromosom bei einem der vielen Kopier-Vorgänge kaputt geht oder die Körperzellen durch einen Defekt kein Testosteron wahrnehmen können.

Doch das Y-Chromosom ist neben seiner grossen Bedeutung für die Entscheidung ob männlich oder weiblich auch ein wichtiges Forschungsobjekt für die menschliche Evolutionsforschung. Denn während die Nicht-Geschlechtschromosomen nur mit einer 50%igen Chance weitervererbt werden, geht das Y-Chromosom immer vom Vater auf den Sohn über. Dank dieser Stabilität können Forschende anhand des Y-Chromosoms weit in die Vergangenheit der Menschheit blicken.

Damit hilft das Y-Chromosom zum Beispiel bei der Entdeckung von sogenannten evolutionären Flaschenhälsen. Man kennt das Phänomen von bedrohten Tierarten: Wenn einmal eine kritische Anzahl von Individuen einer Art unterschritten wird, ist es extrem schwierig, die Art vor dem Aussterben zu bewahren, weil die genetische Vielfalt verloren geht, was wichtig für die «genetische Gesundheit» einer Population ist.

Beim Menschen kam das mehrmals in der Geschichte vor, denn in der Vergangenheit haben sich zu verschiedenen Gelegenheiten nur ein paar wenige Männer vielfach fortgepflanzt. Ein bekanntes Beispiel ist Dschingis Khan, der hunderte oder gar tausende Kinder gehabt haben soll – so viele, dass heute etwa 0,5 % der Männer auf der ganzen Welt von ihm abstammen.

Doch es gibt noch extremere Flaschenhälse in der menschlichen Evolution: Ein Forschungsteam hat herausgefunden, dass die Menschheit vor 900'000 Jahren beinahe ausgestorben wäre. Alle heute lebenden fast 8 Milliarden Menschen stammen von nur etwa 1'280 Menschen ab, die damals durch Fortpflanzung das Überleben der Art sicherten. Wahrscheinlich wurde die damalige menschliche Population zuvor durch einen Klimawandel stark dezimiert. Aber anders als heute wurde die Erde damals nicht wärmer, sondern kälter. Wir Menschen waren also einmal eine durch den Klimawandel bedrohte Tierart – das ist doch ein spannender Denkanstoss für die heutige Zeit!

 

Quellen:

Rhie, A., Nurk, S., Cechova, M. et al. The complete sequence of a human Y chromosome. Nature (2023). https://doi.org/10.1038/s41586-023-06457-y

https://www.nationalgeographic.com/culture/article/mongolia-genghis-khan-dna

Hu W, Hao Z, Du P, Di Vincenzo F, Manzi G, Cui J, Fu YX, Pan YH, Li H. Genomic inference of a severe human bottleneck during the Early to Middle Pleistocene transition. Science (2023). doi: 10.1126/science.abq7487.